Das zweischneidige Schwert der Hygiene

Bis in die zweite Hälfte des 19.Jahrhunderts starben nach Verletzungen mit offen Wunden die meisten Menschen entweder direkt oder spätestens in den Krankenhäusern an Wundinfektionen in Form von Gangrän oder Sepsis. Besonders in den extrem dicht besiedelten Städten mit den katastrophalen hygienischen Bedingungen konnten sich Krankheitserreger ungehindert ausbreiten. Die höchste Keimdichte fand sich damals in den Krankenhäusern (!), wo die Keime auf den ungewaschenen Händen und Straßenkleidungen der Chirurgen von einem Infizierten zum nächsten und zwischen Sektionssaal und OP hin und her getragen wurden. Das permanente Sterben von Wöchnerinnen und Frischoperierten galt als normal und wurde von der Ärzten billigend in Kauf genommen. Keime als Krankheitsverursacher waren noch nicht bekannt bzw. wurden nach der Entdeckung noch lange geleugnet. Damals herrschten für uns heute absolut unvorstellbare Zustände, wenn beispielweise Chirurgen blut- und eiterverschmiert nach einer Abszeß-OP – damals noch ohne OP-Handschuhe – einen Kaiserschnitt durchführten.
Erst die Entdeckungen und wissenschaftlichen Studien des Chemikers Pasteur und besonders des renommierten englischen Chirurgen Joseph Lister setzen mit dem Einführen der Antisepsis bzw. der antiseptischen Chirurgie diesem elenden Massensterben ein Ende. Es folgten viele andere wie der Ungar Emanuel Semmelweiß oder Robert Koch. Sie alle trugen dazu bei, daß allen Mikroben erfolgreich der Kampf angesagt wurde, denn man sah nun in jedem Keim einen Krankheitserreger.
Noch während meines Medizinstudiums in den 70er Jahren wurde im Fach Mikrobiologie ausschließlich über Krankheitserreger gelehrt – kein Wort über probiotische Keime!
So ist es nicht verwunderlich, daß sehr lange Zeit bis in die 80er Jahre des vorherigen Jahrhunderts über die Vorzüge gewünschter Bakterien kaum etwas bekannt war. Und die eigentliche Bedeutung des Mikrobioms für unsere Gesundheit erkennt die Wissenschaft sehr zögerlich erst seit ca.10 Jahren an.

Die schrecklichen Zeiten sind glücklicherweise vorbei, die aseptische Chirurgie ist Standard und Probiotika gewinnen immer mehr an Bedeutung. Sollten wir nicht mit unserer heutigen Situation zufrieden sein? Leider nein, denn wir drohen von einem Extrem in ein anderes zu fallen.
Wie so vieles, so hat auch die Antisepsis ihre Kehrseite, nämlich dort, wo auch die uns schützenden Bakterien auf der Strecke bleiben. Übertriebene Hygiene besonders mit Antiseptika bzw. Desinfektionsmitteln mag bis zu einem gewissen Grad schwere Infektionen verhindern, führt aber über die Minderung der Diversität unseres Mikrobioms zu einer Schwächung unseres Immunsystems. Damit drohen neue Infekte, die wir wiederum nur mit Desinfizienzien bzw. Antibiotika abwehren können. Wir stecken damit in einem Circulus vitiosus gefährlicher Abhängigkeiten, die uns am Ende möglicherweise hilflos gegenüber antibiotikaresistenten Keimen werden lassen.

Ein gesunder und widerstandsfähiger Organismus zeichnet sich u.a. durch ein Mikrobiom mit einer großen Diversität aus – einer möglichst großen Vielzahl verschiedener Bakterienarten. Und das gilt für alle Körperoberflächen. Je mehr Arten unser Immunsystem kennt, um so besser ist es trainiert und im Zweifelsfall geschützt. Das trifft auf den Darm ebenso zu, wie z.B. auf die Atemwege, das Vaginalmilieu oder die Haut. Insbesondere letztere leidet unter übertriebener Hygiene. Eine intakte Haut schützt sich selbst u.a. durch die selbstfettende Tagproduktion, mit einer milden Säureproduktion und einem aus vielen hundert Keimarten bestehenden Mikrobiom. Dieser natürlichen Schutzbarriere können nur wenige Erreger etwas anhaben. Diese Haut trocknet nicht so schnell aus, neigt selten zu Ekzemen oder zu allergischen Reaktionen. Nun mögen Sie sich ausmalen, was tägliches Anwenden von basischen Seifen, möglicherweise auch von Desinfektionsmitteln wie Sagrotan u.a. in diesem Schutzsystem anrichten kann.
Natürlich will keiner zurück ins Mittelalter oder zu Zeiten von Ludwig XIV, wo man statt Seife zu verwenden mit streng duftenden Parfüms üble Körpergerüche zu überdecken versuchte. Aber vielleicht sollten wir uns ernstlich fragen, ob beispielweise tägliches Duschen wirklich sein muß und dabei immer der gesamte Körper samt seinem Mikrobion mit Seife abgewaschen werden muß. Bedenken Sie: ein bewußter Umgang mit der Hygiene schont unser Mikrobiom und zudem unsere Wasser- und Energieresourcen!

Mein lebenserfahrener Großvater auf dem Bauernhof hatte in einer gewissen Weise schon recht, wenn er mich mit den Worten ermahnte: “Junge, wasch Dich nicht so oft, sonst wirst Du krank!“ Hätte er in der 50er Jahren schon davon gewußt, er hätte damals schon formuliert“…, denn Du störst Dein Mikrobiom!“