Leitlinien in der Medizin sind kein Gesetz, werden aber tagtäglich so gehandhabt, als wären sie in Stein gemeißelt. Und das ist gefährlich, weil es bei Arzt und Patient dazu verführt dem als alleinige Wahrheit zu vertrauen und im Einzelfall nicht mehr kritisch zu hinterfragen. Leitlinien sollen definitionsgemäß Ärzten bei der Entscheidungsfindung helfen eine angemessene gesundheitliche Versorgung zu gewährleisten. Sie entbinden den Arzt aber nicht von der Überprüfung der individuellen Anwendbarkeit. Sie sind lediglich Entscheidungshilfen und nicht rechtlich bindend!

Mir ist schon klar, daß es angesichts einer wachsenden Flut neuer medizinischer Erkenntnisse gewisser diagnostischer und therapeutischer Strukturen bedarf. Aber ein weiterer wesentlicher Grund für klare Leitlinien war anfänglich ganz sicher die sehr gering ausgeprägte Bereitschaft zur Fortbildung bei Ärzten. Nicht ohne Grund hat man seit 2004 den Kassenärzten eine Fortbildungspflicht aufs Auge gedrückt, nicht unähnlich der Kontrolle von Hausaufgaben in der Schule! Ich selbst habe als Referent bzw. Dozent über Jahre solche Fortbildungsveranstaltungen begleitet und weiß wovon ich rede.

Wer als Therapeut oder Patient einmal nachdenkt und nicht dem Herdentrieb folgt, dem muß einfach klar werden, daß wir alle viel zu unterschiedlich sind, als daß allgemeine Leitlinien auch nur ansatzweise dem gerecht werden könnten.

So empfehlen beispielweise die gastroenterologischen Leitlinien bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen wie der Colitis neben diätetischen Vorgaben eine antientzündliche bzw. immunologische Therapie ohne Beachtung des Mikrobioms. Dabei ist bekanntlich letzteres meist der Verursacher der Entzündung. Darüber schweigen aber die Leitlinien!

Oder nehmen wir das leidige Thema Helicobacter, einem Bakterium im Magen, das bei ca. 40% der Menschen schadlos mit uns lebt. Die Leitlinien dazu schreiben aber beim gastroskopischen Nachweis schon bei Schleimhautreizungen eine sog. Eradikationstherapie vor. Sie besteht aus einer Kombination von zwei unterschiedlichen Antibiotika und einem Säureblocker (Protonenpumpenhemmer). Diese Therapie wirkt im Mikrobiom wie ein Supergau und sollte deshalb mit Augenmaß natürlich nur bei massiven Beschwerden wie beispielsweise beim Magengeschwür eingesetzt werden.

Als letztes Beispiel möchte ich das Thema Medikamente und Leitlinien ansprechen, das mir große Sorgen macht, weil es mir nahezu täglich in der Praxis begegnet. Wie viele Patienten insbesondere in Deutschland schlucken täglich 2 oder 3 verschiedene Blutdrucksenker (…vielleicht zu Unrecht, siehe letzter Newsletter), ASS, einen Cholesterinsenker und wer weiß noch was? Für die Anwendung der einzelnen Medikamente gibt es meist Leitlinien – aber keine für alle zusammen als Cocktail!!! Denn dieser ist ein einziges pharmakologisches Experiment, wo allein mit Wissen, Erfahrung und enger Zusammenarbeit mit dem Patienten Risiken individuell gemindert werden können – Leitlinien hin oder her!

Mein Rat an Sie als Patient:

Denken Sie mit, informieren Sie sich und glauben nicht alles blind, nur weil angeblich gemäß den Leitlinien behandelt wird und somit alles richtig sein muß! Das kann es, muß es aber nicht. Sein Sie kritisch, denn es ist schließlich IHRE nicht leitlinienformulierbare individuelle Gesundheit!

Mein Rat an uns Therapeuten:

Wir sollten unserem Wissen und unserer Erfahrung vertrauen und nur im Zweifelsfall die Leitlinien hinzuziehen. Zeigen wir Rückgrat und behandeln im Einzelfall unter Mißachtung der Empfehlungen in den Leitlinien!